"Manchmal ist das, was man als beglückend empfindet, eben auch das, was einen quält"

 

Foto Tonia Christie

Interview mit der Autorin Annette Mingels über ihren neuen Roman "Dieses entsetzliche Glück"

Liebe Annette, du bist vor zwei Jahren mit deiner Familie nach Sausalito, an die Westküste Kaliforniens gezogen und hast dort deinen inzwischen sechsten Roman „Dieses entsetzliche Glück“ fertig geschrieben. Wie sehr hat dich der Umzug von Deutschland nach Amerika inspiriert? Wie wichtig war er für dein Buch?

Ich hatte das Buch in Deutschland begonnen, aber Amerika als Schauplatz gewählt, da ich wusste, dass ich hier den Hauptteil schreiben würde. Vor Ort habe ich mich inspirieren lassen, sowohl von Leuten, die ich kennenlernte, als auch von Geschichten, die ich hörte, als auch von alltäglichen Dingen. Es ist kein politisches Buch - ich will kein Panorama von den USA geben - und doch spielen auch solche Themen in die Geschichten hinein: So wird die Idylle der Kleinstadt Hollyhock durchaus gebrochen durch die Wahrnehmung von Ausgrenzung sozialer oder ethnischer Art.

 

Der Roman spielt ja nicht in Kalifornien, sondern im Osten Amerikas. Woher kennst du diese Gegend?

Wir haben früher schon einmal zwei Jahre in Montclair gelebt, einer kleinen Stadt nahe New York. Außerdem kenne ich die Ostküste von meiner Kindheit her. Bei meinen Verwandten auf Long Island war ich oft zu Besuch. Ich habe noch viele Erinnerungen daran, vor allem an dieses Kleinstadtgefühl. Das Buch spielt allerdings vor allem in Virginia, nicht ganz an der Ostküste. Dort bin ich einige Zeit herumgereist.

Annette Mingels © privat

Der Ort, aus dem die meisten Protagonisten in deinem Buch kommen, heißt Hollyhock. Ins Deutsche übersetzt bedeutet das Stockrose.

Ja, das stimmt. Ich hatte mir erst einen Ort in Virginia rausgesucht, der ungefähr meinen Vorstellungen entsprach, aber ich wollte nicht genau diesen Ort abbilden, und so wurde es eine Mischung aus verschiedenen kleinen Städten. Dann suchte ich nach einem Namen dafür und kam auf Hollyhock, ein irgendwie friedlicher Name, der mir als Kulisse für die ganz persönlichen Krisen seiner Bewohner gefiel.

 

In deinem Roman sind in 15 Kapiteln die Schicksale von 15 Menschen miteinander verwoben und Glück und Unglück liegen eng beieinander. Was ist denn so entsetzlich an diesem Glück?

Das bezieht sich auf eine ganz konkrete Szene von Basil, der dieses schmerzhafte Glück verspürt, als er auf der Veranda von Kenjis Elternhaus steht. Diese Ambivalenz seines Gefühls fand ich prägend für das ganze Buch. Es ist eine Glückserfahrung, die eine gewisse Melancholie in sich trägt. Manchmal ist das, was man als beglückend empfindet, eben auch das, was einen quält.

 

Wie hast du die Familienkonstellationen in deinem Roman entwickelt?

Ich bin seit jeher eine Autorin, die sich beim Schreiben von ihren eigenen Protagonisten überraschen lässt. Irgendwann habe ich dann aber natürlich begonnen, eine Art von Spinnennetz zu entwerfen, in dem die Figuren, Orte und Vorkommnisse miteinander korrelieren.

Es ist immer der gleiche Ablauf bei mir: Erst nachdem der Stoff sich entwickelt hat und lebendig geworden ist, mache ich mich an die Planung. Bei diesem Buch nun ist die Besonderheit, dass die Kapitel auch für sich stehen können, als Einblicke in verschiedene Leben.

 

Das Buch ist kurz vor der Coronakrise fertig geworden. Würdest du es jetzt, mit drei Kindern, die den ganzen Tag zu Hause sind, noch schaffen an einem Buch zu schreiben?

Da mein Roman fertig ist, hat mein Mann im Moment die luxuriöse Situation, die ganze Arbeitszeit zu haben, und er als Journalist ist im Moment auch wirklich gefordert. Klar, ich hätte sehr gerne ein paar Stunden am Tag zum Schreiben. Wenn im September die Sommerferien hier vorbei sind, werden unsere Kinder insgesamt sechs Monate zu Hause gewesen sein! Das ist wahnsinnig lang und intensiv. Aber so ist es jetzt halt. Wenn der Roman nicht rechtzeitig fertig geworden wäre, hätten wir uns allerdings anders arrangieren müssen.

Hast du etwas bei diesem Buch anders gemacht als bei den Büchern davor? War die Herangehensweise eine andere als sonst?

Neben der Form des Episodenromans war der wesentlichste Unterschied wohl einer der Umstände: der Umzug in eine andere Umgebung, ein anderes Land. So viele neue Ideen und Eindrücke stürmten damit auf mich ein, und gerade in der Anfangszeit beobachtet man eine neue Umgebung und Kultur ja auch sehr genau. Ich habe den Eindruck, dass der Umzug meinem Schreiben guttat.

 

Worin liegt der Reiz in der Verbindung von Kurzgeschichten und einem Roman?

Ich habe mit Kurzgeschichten angefangen und damit bei einem Wettbewerb gewonnen. Daraufhin kam ein kleiner Schweizer Verlag auf mich zu und fragte, ob ich nicht einen Roman für sie schreiben könnte. Ich probierte es und daraus wurde mein erstes Buch - „Puppenglück“. Auch die nachfolgenden beiden Bücher wurden Romane. Das Komische ist, dass ich eigentlich immer Kurzgeschichten schreiben wollte und dann meistens doch Romane schrieb, bis auf ein Buch: „Romantiker“. Ich lese auch vor allem Kurzgeschichten; ich bin niemand für die dicken Schmöker über drei oder vier Generationen mit gesellschaftlichem Panorama im Hintergrund … Ich mag das

Zersplitterte lieber, die Momentaufnahme. Was ich bei meinem neuesten Buch spannend fand, war, dass ich die formale Eleganz und Pointiertheit der Kurzgeschichte haben konnte und doch eine Interaktion der Personen. Indem ich immer wieder die Perspektive wechsele, wird deutlich, wie sehr die Figuren einander missverstehen, missinterpretieren. So ist es ja auch in der Realität. Man kommt aus der Subjektivität nicht heraus und findet keine allgemeine Wahrheit. Diese Art von „story cycle“ ist keine neue Idee, aber sie bildet unsere Zeit gut ab und ist auch symptomatisch für die moderne Literatur mit ihrem Verzicht auf den allwissenden Erzähler.

 

Die Rolle der Mutter und die der Erziehung spielt eine große Rolle in deinem Buch. Die Mütter raten den Töchtern zu mehr Selbstständigkeit, die sie selber nicht leben konnten. Manchmal sind die Aussagen auch widersprüchlich. Warum war es dir wichtig, darüber zu schreiben?

Meine Eltern haben mir immer vermittelt, dass mir als Frau alle Türen genauso offenstehen würden wie den Männern. Gerade meine Mutter mahnte mich immer zu Selbstständigkeit. Gleichzeitig gab es da unterschwellig aber auch ganz klassische Ideen von Mutterschaft, was eine gewisse Widersprüchlichkeit mit sich brachte. Jede Generation muss sich wohl so ein wenig aus dem Erlernten und Übernommenen rauswinden und behält doch gleichzeitig immer auch eine Prägung davon zurück. Das muss nicht notwendig schlecht sein, aber es stellt Frauen - und übrigens auch Männer - doch immer wieder vor die Herausforderung einer Neuverortung: Wo stehe ich, was ist mir wichtig, was übernehme ich und wo grenze ich mich ab? Und manchmal besteht dann ein Widerstreit zwischen Ratio und Gefühl.

 

Warum braucht es extreme Situationen wie auch in deinem Buch beschrieben - Trennung, Tod, Umzug, Unfall - um Veränderungen in Beziehungen auszulösen, die der Alltag so nicht hervorbringt?

Der Punkt, an dem ich in den Geschichten ansetze, ist oftmals der Höhepunkt vieler allmählicher Veränderungen. Zum Beispiel im ersten Kapitel „Retter“, die Geschichte um Robert und Amy. Die beiden haben ein Abkommen - sie dürfen mit anderen schlafen - was vor allem darum für Robert verletzend ist, da sich bei ihm keine Gelegenheit ergibt. Dann lernt er diese junge Frau kennen, Julie, und beinah passiert zwischen ihnen etwas, doch dann geht die kleine Tochter Julies verloren. Am Ende ist alles ganz harmlos, sie ist nur irgendwo im Hotel unterwegs. Aber es sind Angstmomente, die auch so im Alltag passieren können. Verlustängste, Begierden. Und, daraus resultierend, Wendepunkte im Leben.

Einige Protagonisten leben mit Geheimnissen. Warum war es dir wichtig, über ihre Geheimnisse zu schreiben?

Also das größte Geheimnis ist vielleicht das von Basil, ohne das jetzt verraten zu wollen. Ansonsten handelt es sich eher um Kleinigkeiten: dass man dem anderen gegenüber unklar ist, sich missversteht, nicht genau genug hinschaut, einander falsch deutet. Zum Beispiel Nomi, die Saul verlässt. Für sie wurde die Beziehung über Jahre hin immer weniger befriedigend, zudem vermisst sie zunehmend ihre Heimat Japan. Das ist kein Geheimnis, und trotzdem ist es etwas, was Saul nicht weiß, ganz einfach, weil er es nicht wissen will. Es sind für mich keine großen Geheimnisse, die Familien überschatten, sondern eher kleine alltägliche Situationen, in denen sich die Menschen trotz großer Nähe fremd bleiben.

 

Jeder kennt, zumindest im Ansatz, die Ambivalenz, die du in der Beziehung zwischen Tessa und ihrem Mann River beschreibst.

Tessa und River haben gewisse Vorbehalte gegeneinander. Vielleicht auch, weil sie als Lektorin beruflich erfolgreicher ist als er, der als Lehrer an einer Problemschule arbeitet. Tessa wünscht sich ein Kind, mehr als River das tut, und ihr ist bewusst, dass sich dadurch Kräfte- und Machtverhältnisse verschieben, und sie mehr für das Kind wird aufgeben müssen als er. Es ist eine Situation, wie sie gerade für moderne Paare typisch ist. Es geht immer auch um das eigene Terrain und das des anderen und inwiefern das miteinander agiert.

 

Was fasziniert dich am Schreiben?

Für mich ist das Hauptvergnügen, dass ich sprachlich einen Kosmos erschaffen kann, ohne vorab genau zu wissen, was passieren wird. Ich fange mit dem ersten Satz an, habe ein Bild vor Augen, eine Person im Sinn, aber was genau geschehen wird, weiß ich nicht; das entwickelt sich erst innerhalb der Geschichte. Diese Freiheit ist für mich wesentlich, nur so werden die Geschichten lebendig. Und noch ein Punkt ist für mich wichtig, sowohl beim Lesen wie beim eigenen Schreiben: dass etwas in der Schwebe bleibt, nicht alles auserzählt wird. Dass etwas da ist, was sich nicht ganz fassen lässt, wie eine zweite Ebene hinter dem Text.

 

Hattest du den Titel des Buches „Dieses entsetzliche Glück“ von Anfang an im Sinn?

Der kam während des Schreibens. Es ist ein Zitat aus dem Roman und es trifft genau die Stimmung des Buches: diese Schwebe zwischen Melancholie, Glück, Trost und Trauer. Übrigens ist es das erste Mal, dass mir ein Titel einfach so einfiel. Sonst musste ich mich mit dem Lektor, der Lektorin immer abmühen, bis wir einen gefunden hatten, auf den wir uns einigen konnten. „Dieses entsetzliche Glück“ mochten alle gleich richtig gern - ich nehme das jetzt mal als gutes Zeichen.

 

08/2020