Interview mit Benjamin Brunn - Initiator des Klangturm Hamburg-Veddel

Fassade eines Wohnhauses in goldener Farbe
Goldenes Haus Veddel - Kunstprojekt von Boran Burchhardt © Tonia Christie

 

Im Stadtteil Veddel gibt es zwei ungewöhnliche Attraktionen: eine vergoldete

Hausfassade und den Klangturm Hamburg-Veddel

 

 Warum neuerdings von dem Kirchturm der Immanuelkirche auf der Veddel, statt Glockenschläge akustische Sounds erklingen, darüber habe ich mit Benjamin Brunn, Initiator des Klangturm Hamburg-Veddel gesprochen.

 

Lieber Benjamin, worum geht es bei dem Projekt „Klangturm Hamburg-Veddel“ genau?

Das Projekt hat viele Facetten, aber in erster Linie ist es ein Klangkunstprojekt, an dem verschiedene Künstler*innen beteiligt sind. Die Idee hat ihren Ursprung jedoch ganz woanders, nämlich beim Kirchturm im Dorf meiner Eltern. Die Glocken dort wurden vor vielen Jahren mal erneuert und dafür vorübergehend eine Lautsprecheranlage installiert, damit die Glockentöne auch während der Bauzeit weiterhin hörbar waren. Daher wusste ich, dass es solche speziellen Anlagen gibt. Weil der Turm der Kirche auf der Veddel sanierungsbedürftig ist, kam mir die Idee, die Glocken dauerhaft abzustellen, um den Turm nicht länger mit den Glockenschwingungen zu belasten und stattdessen Lautsprecher zu installieren.

 

 

Mann steht vor Immanuelkirche
Initiator des Klangturm Hamburg-Veddel, Benjamin Brunn © Tonia Christie

Du arbeitest als Bauingenieur und bist Mitglied im Kirchengemeinderat. Wie kam es dazu?

Ich wohne seit 15 Jahren hier im Stadtteil und kenne ihn entsprechend gut, bin aber viele Jahre an der Kirche nur vorbeigegangen. Irgendwann entdeckte ich den schönen Garten hinter dem Gemeindehaus, um nach der Arbeit und der Kita mit den Kindern hierherzukommen. So kam ich in Kontakt mit der Diakonin und Mitgliedern des Kirchengemeinderats, die mich irgendwann fragten, ob ich nicht Mitglied werden wollte. Da lag es nahe, dass ich mich als Bauingenieur etwas um den Turm kümmere. Im Frühling 2020 ließen wir zunächst eine elektronische Glockenanlage einbauen. Schnell kam mir die Idee, die Lautsprecher auch für Musik zu nutzen, da ich mich früher selbst mit Musik beschäftigt und 20 Jahre lang nebenberuflich elektronische Musik gemacht habe. Obwohl ich auch tanzbare Musik produzierte, ging es mir immer mehr um Sounddesign und experimentelle Musik. So ist es einerseits ein Zufall, dass dieses Projekt nun hier in dieser Kirche realisiert wird, andererseits gehe ich davon aus, dass es in keiner anderen Kirche so ohne Weiteres möglich wäre. Hier ist der perfekte Ort dafür.

 Immanuelkirche Hamburg-Veddel

Wie wäre es, wenn man vom Kölner Dom aus, zu jeder vollen Stunde, Hells Bells von AC/DC hören würde?

Ich glaube das gäbe einen riesengroßen Aufstand.

 

Gab es einen konkreten Anlass für das Klangturm-Projekt?

Ja, das war Corona. Ich dachte mir, wenn nicht jetzt, wann dann? Die Künstlerinnen und Künstler die ich gerne für das Projekt gewinnen wollte, so nahm ich an, hätten nicht viele Aufträge oder Auftritte in dieser Zeit. Neben der Arbeit an einem besonderen Projekt bekämen sie statt „Corona-Hilfe“ auch ein echtes Honorar. Das Rezipieren der Werke kann im Freien und unter Berücksichtigung von Corona-Abstandsregeln erfolgen.

 

Wie hast du die Künstler*innen ausgesucht?

Zum einen wollte ich, dass der Stadtteil vertreten ist, was im Besonderen im Juni 2022 mit Kindern der Schule auf der Veddel der Fall sein wird. Weiterhin wollte ich internationale Musiker*innen dabeihaben, um die Reichweite des Projekts zu erhöhen, was durch die Berichterstattungen in Zeitungen und im Fernsehen jetzt schon geglückt ist. Zwischen den lokalen Veddeler Künstlerinnen und Künstler und den international bekannten, wie der Japanerin Midori Takada oder AtomTM gibt es auch welche, die ich persönlich durch unsere musikalische Arbeit kenne, wie Frank Bretschneider, der wie ich aus Chemnitz stammt. Even Tuell kenne ich ebenfalls schon sehr lange. Er hat eine besondere Beziehung zu Kirchenmusik, nicht nur, weil sein Vater Organist war. Der Konzeptkünstler Olaf Nicolai weitet das Spektrum der Teilnehmenden in eine ganz andere Richtung aus: Er ist Professor für Bildhauerei und Grundlagen des dreidimensionalen Gestaltens an der Akademie der Bildenden Künste in München. Er hat z.B. bei der documenta und Biennalen in Venedig ausgestellt und beschäftigt sich konzeptionell mit Klängen. Derya Yildirim, die hier auf der Veddel aufgewachsen ist und ebenfalls Verbindungen zur Immanuelkirche hat, ist wiederum viel mehr Musikerin als die anderen Künstlerinnen. Sie gilt als Speerspitze des türkisch-europäischen Crossover mit ihrer Gruppe Grup Şimşek, die sich hier gründete. Es war mir wichtig, dass der Anteil an Musikerinnen nicht zu gering ist. So ist neben der Pariserin Félicia Atkinson auch die Hamburgerin Nika Son dabei, die wiederum ihr Studio auf der Veddel hat. Ihre Arbeit ist den ganzen August über zu hören.

 

Wie oft erklingt der Sound der Musizierenden?

Einen Monat lang kann man den Sound der jeweiligen  Künstlerinnen und Künstler hören. Er erklingt jede Viertelstunde. Bei Andrew Pekler zum Beispiel, bauten sich die Sequenzen viertelstündlich auf: 15 Minuten nach jeder vollen Stunde ertönte eine kurze Sequenz, um halb verdoppelte sie sich und um Viertel vor ertönte sie dreimal. Zur vollen Stunde wurde das Thema in einer längeren Komposition noch einmal verarbeitet. Der Turm ist von 8 Uhr morgens bis 20 Uhr abends aktiv, dienstags bis sonntags. Um 18 Uhr erklingt eine längere Sequenz, die wie früher beim 5-minütigen Geläut aller drei Glocken den Höhepunkt des Tages markiert. Das wollte ich gerne so beibehalten. Nur montags werden Töne von echten Glocken über die Lautsprecher gespielt, da pausiert das Kunstprojekt. Museen haben montags ja ebenfalls geschlossen.

Gab es eine Vorgabe für die Künstler*innen?

Die Randbedingung für alle Teilnehmenden ist, dass die Sequenzen die Zeit akustisch signalisieren, so wie ursprünglich die Glockenschläge. Das bedeutet, dass sie für die Zeit von 8 bis 20 Uhr mindestens 16 verschiedene Sequenzen produzieren, um die vollen Stunden zu differenzieren und anzuzeigen, wann es Viertel nach, halb oder Viertel vor ist. Der Künstler Andrew Pekler hat mehr Sequenzen erarbeitet, sodass z.B. Viertel nach neun anders klingt als Viertel nach zehn. Midori Takada hat darüber hinaus besondere Tonsequenzen für die Sonntage komponiert. Dave Wheels geht ziemlich wissenschaftlich an seine Arbeit heran, indem er sich z.B. über die Bevölkerungszusammensetzung auf der Veddel Gedanken macht, wann die Menschen von der Arbeit kommen, diejenigen, die im Hafen arbeiten oder die, die im Büro arbeiten. Er sagt, freitags 17 Uhr klingt anders als montags 17 Uhr.

 

Wirst du auch etwas Musikalisches beitragen?

Nein. Das wäre irgendwie seltsam. Ich möchte keinen persönlichen Vorteil aus diesem Projekt ziehen, ich möchte nur, dass das Projekt bekannt wird und gebe auch nur deshalb Interviews.

Du wohnst in der Nähe der Kirche, kannst du die Klänge von deiner Wohnung aus hören?

Ja, je nachdem wie der Wind steht, besser oder schlechter. Ich freue mich jedes Mal wieder, wenn ich sie höre. Im Kirchturm steht ein Computer, der über den Verstärker der Anlage für künstliche Glockentöne verbunden ist. Ich habe eine Software programmieren lassen, die je nach Uhrzeit die richtigen Dateien abspielt. Die Namen der Dateien beinhalten jeweils die Uhrzeit, zu der sie abgespielt werden sollen, und das Programm sucht zu den entsprechenden Zeiten die richtigen aus einem Verzeichnis und spielt sie ab. Wenn ich also den Klang vom Balkon höre, weiß ich, o.k., der Computer läuft noch, alles gut [lacht]. Mir ist aufgefallen, dass man, während die Töne erklingen, andere Geräusche viel intensiver wahrnimmt. Zum Beispiel die Geräusche auf dem Spielplatz oder Schritte, wenn jemand vorbeiläuft, Vogelgezwitscher, die S-Bahn, die vorbeifährt.

 

Welches Projekt planst du als Nächstes?

Ich denke über eine zweite Runde das Klangturm-Projekts nach und hoffe, dass es ein weiteres Jahr stattfinden kann, wenn es der Stadtteil weiterhin wohlwollend aufnimmt und es mir gelingt, wieder Fördergelder zu bekommen.

08/2021