Interview mit Jens Brambusch, Autor und Segler

Mann sitzt am Steuerrad auf einem Segelboot
© Jens Brambusch

 

Jens Brambusch ist Autor und "Segelaussteiger". Als Journalist lebte und arbeitete er einige Jahre in Berlin und vermietete dort seine Wohnung als Airbnb Gastgeber. In seinem Buch Rollkofferterroristen beschreibt er auf unterhaltsame Art seine Erlebnisse und Begegnungen mit Gästen aus aller Welt. Während unseres Zoom-Interviews sitzt Jens gut gelaunt an Deck seines Bootes Dilly Dally, was auf Englisch so viel wie herumtrödeln bedeutet. Er erzählt mir von seinen Erfahrungen als Airbnb Host, von dem Tag, an dem sein Leben sich radikal veränderte und wie entspannt der Alltag auf seinem Segelboot an der türkischen Mittelmeerküste sein kann.

Lieber Jens, in deinem Buch Rollkofferterroristen, das gerade erschienen ist, beschreibst du auf ironische, unterhaltsame Art deine Erfahrungen, die du als Airbnb Gastgeber in Berlin gemacht hast. Welche Lehre hast du aus dieser Zeit gezogen?

Nie wieder! [lacht] Ich würde Airbnb nicht generell verteufeln, aber wenn man so wie ich, eine Ferienwohnung hatte, entzieht man anderen Leuten den Wohnraum und nimmt außerdem noch alle seine Nachbarn in Geiselhaft. Eine Ferienwohnung in einem Mietshaus finde ich unverantwortlich, weil die Wohnung immer für Unruhe sorgt. Natürlich nicht bei jedem Gast, aber wie im Buch erwähnt – in jedem siebten Gast steckt eine böse Überraschung. Gerade in Großstädten gibt es bei den jüngeren Leuten die Partytouristen, die im Urlaubsmodus sind, und das passt nicht zu der Mentalität der anderen Hausbewohner.


Buch Zitat: »Live like a local«, lautet das Motto von Airbnb und nicht »Party hard«. 

In einer Szene schilderst du, wie du durch die Straßen Berlins läufst, als ob du auf der Flucht wärst. Vor wem bist du geflohen?

Vor den Finnen, an die ich meine Wohnung vermietet hatte. Es war mitten in der Nacht, als ich vor deren Wohnungstür stand. Die haben mich vorher schon genervt mit ihrem Lärm und als dann noch mehr Finnen mit ihren Getränketüten die Treppe hochkamen und so unverschämt waren zu sagen, wir zahlen hier Miete, also können wir hier machen, was wir wollen … da habe ich gemerkt, ich komme an meine Grenzen.


Auszug aus dem Buch:

Gerade will ich an Niko vorbei in die Wohnung stürmen, als mich ein Scheppern unten im Treppenhaus von dem Plan ablenkt. Ich vernehme lautes Lachen, untermalt vom Poltern schwerer Stiefel. Dazu ein Kauderwelsch, das Finnisch sein könnte. Jedenfalls eine Sprache, die ich in unserem Treppenhaus zuvor noch nicht gehört habe. Ich trete zwei, drei Schritte zurück und schaue irritiert die Stufen hinab. Zwei Typen, die aussehen wie aus einem Video der finnischen Hard-Rock-Band Lordi entsprungen, schleppen sich und jeweils zwei weiße Plastiktüten vom Späti die Treppe hinauf. An den Wölbungen ist unschwer der Inhalt zu erahnen: Flaschen. Es sind aber keine Wasserflaschen, es ist auch kein Bier. Ich erkenne billigen Fusel mit hohen Drehzahlen, Wodka und Korn. In Mathe war ich nie gut, aber das kriege ich noch hin: zwei Typen im Treppenhaus, Niko vor mir, das macht drei. Entweder ist der vierte Finne im Wohnzimmer ein begnadeter Stimmenimitator, oder aber es bedröhnen sich noch weitere vier bis fünf Leute in der Wohnung. Die zweite Variante kommt mir deutlich plausibler vor. »Wie viele Leute seid ihr da drin?«, will ich von Niko wissen. »Die Wohnung ist nur für vier Personen«, sage ich weiter und bemühe mich weiterhin um einen sachlichen Ton, den ich aber immer schwerer halten kann. »Sorry«, fängt die Platte mit Sprung wieder an zu leiern. Niko versteht mich nicht. Oder er will es nicht. »Wie viele Personen?«, frage ich noch mal. »Ah«, sagt Niko, als wäre endlich der Groschen gefallen. »Vier!« Jetzt platzt mir der Kragen: »Verarsch mich nicht!« Niko versucht sich zu rechtfertigen und bringt tatsächlich einen ganzen Satz zustande, wenn auch einen kurzen. »Wir haben Besuch«, lallt er. »Bisschen chillen.«

Chillen bei 105 Dezibel? »Der Besuch haut sofort ab. Musik aus. Ruhe«, brülle ich. Gerade will ich mich aufplustern, als mir erst ein Zeigefinger von hinten an die Schulter tippt und sich dann, nachdem ich mich umgedreht habe, in die Brust bohrt. Einer der beiden Tütenträger steht direkt vor mir. Mir wird schwarz vor Augen. Ich starre auf langes, schwarzes Leder einer abgewetzten Kutte über einem dunklen T-Shirt mit irgendwelchen Schriftzeichen, die an Runen erinnern. Die Brusttasche des Mantels befindet sich in Höhe meiner Augen. Der Mann ist noch größer als der Typ, der mir die Tür geöffnet hat. Mein Blick wandert höher, immer noch über glattes Leder. Dann wird es struppiger. Das ungepflegte Geflecht bewegt sich zu Worten. Im Takt dazu spüre ich, wie sich der Zeigefinger in meine Brust bohrt. Jedes Wort ist wie ein Nadelstich:

 

 »We – pay – rent! We – can – do – what – we – want!«


Bei Lärmbelästigung habe ich immer eine Mail an die Gäste geschrieben, auch weil ich keine Lust auf die direkte Konfrontation hatte. Es wurde Besserung gelobt und man merkte, sie bemühen sich. Da war man im Kontakt. Aber bei den Finnen ist wirklich alles gescheitert. Die waren so laut, dass nicht nur die Leute, die unter ihnen wohnten, sich beschwerten, sondern auch die im Vorderhaus. Das war der Moment, wo mir klar wurde – die müssen raus, obwohl sie noch eine Woche gebucht hatten. Aber da war überhaupt kein Entgegenkommen und Einsicht ihrerseits. Ein Kollege meinte damals zu mir – das musst du doch wissen, dass die Finnen viel Saufen und dann nicht mehr wissen, wo oben und unten ist [lacht].

Auf deiner Website „Jens Brambusch macht blau“ beschreibst du eine berührende Szene:

An dem Tag, als klar wurde, dass es so nicht mehr weitergeht, duftete es im Auto nach frisch gebackenem Käsekuchen. Ich war auf dem Weg in die Redaktion. Ankommen sollte ich dort nicht. Nicht an diesem Tag und auch nicht in den kommenden Wochen und Monaten. An einer Kreuzung sprang die Ampel auf Rot. Das Herz raste, auf der Stirn bildeten sich Schweißperlen. Ich hatte das Gefühl, umzukippen. Dabei saß ich ja. Das Blickfeld war eingeengt. Die Geräuschkulisse des morgendlichen Wahnsinns auf den Straßen war ohren- betäubend und stumm zugleich. Dumpf und hässlich. Und dann war da diese Sperre im Kopf, wie eine unendlich hohe Mauer, direkt vor mir. Ich setzte den Blinker, verließ den Weg, der zur Arbeit führte, und fuhr geradewegs zum Arzt.

 

Diagnose Burn-out. Kannst du dich erinnern, wann das beklemmende Gefühl sich bei dir zum ersten Mal bemerkbar gemacht hat?

Das ist nicht so einfach zu erklären. Auf jeden Fall ist es der Grund, warum ich jetzt hier auf dem Boot lebe. Als Student hatte ich das erste Mal mit Panikattacken und Angstzuständen zu tun. Da bin ich plötzlich einfach umgekippt. Wenn Menschen mir damals von einem Burn-out erzählt haben, dann dachte ich nur, das ist doch ein Klischee des überforderten Lehrers. Das passte nicht in meine Welt, da ich immer unter Strom stand und beruflich viel herumgereist bin, auch in Krisengebieten, was sehr spannend war. Während des Studiums damals in Würzburg, befand ich mich plötzlich in der Situation, nicht in einen Supermarkt gehen zu können. Ich bekam Schweißausbrüche und Herzrasen und dachte, ich kippe um. Dieses Gefühl kam immer dann auf, wenn ich das Tempo nicht bestimmen konnte – und das Tempo einer Supermarktkasse konnte ich einfach nicht beeinflussen [lacht]. Kurz darauf bin ich mit einem alten Wohnmobil zum Studium nach Palästina gefahren, habe dort in Bir Zait gewohnt und an der Bir Zait Universität Arabistik und Islamwissenschaften studiert. In der Zeit litt ich immer noch unter Panikattacken und Angstzuständen und hatte wieder ganz konkret das Problem –ich konnte keinen Supermarkt betreten. Vor Ort sah ich auch das Elend, die Menschen in den Flüchtlingslagern, die wirklich um Leib und Leben fürchteten und unter ganz schlimmen Bedingungen lebten. Und als ich diese „echten“ Probleme sah, habe ich mir meine kleingeredet. Sie tauchten immer mal wieder auf. Wie so ein Zeigefinger, der mir signalisierte, oh Mensch, jetzt ist es gerade wieder nicht so gut. Dann kam der Umzug von Hamburg nach Berlin und da wurden die Anschläge ein bisschen häufiger. Ich war natürlich auch Weltmeister im Verdrängen und habe das alles nicht ernst genommen. Im Job funktionierte ich immer noch gut. Ich habe eben viel und gerne gearbeitet, es gab immer neue Themen, auch heikle, wie im Bereich der Wirtschaftskriminalität, wo man auch mal bedroht wurde. Dann kam eine Zeit, das ist ja im Journalismus durchaus üblich, in der es mehr Output gab, also die Anforderungen immer größer wurden, die Etats und Teams aber kleiner und die Zeit für Recherche immer knapper. Auch wenn wir beim Monatsmagazin Capital immer noch auf einer Art Insel der Glückseligen waren im Vergleich zu Tageszeitungen. Es entstand eine schleichende Überlastung, ich fühlte mich immer öfter unzufrieden und unwohl und habe viel im Homeoffice gearbeitet. Da hatte ich meine Ruhe und konnte viel mehr powern. Aber ich spürte, es lief nicht alles gut. Ich suchte immer häufiger nach Ausreden. Dann kam dieser eine besagte Tag im Auto auf dem Weg zur Arbeit. Ich bin wirklich nicht jemand, der gerne zum Arzt geht und wenn ich es dann doch tue, dann geht es mir wirklich nicht gut. An dem Tag wurde mir klar, es wird morgen und übermorgen auch nicht besser werden und es musste etwas passieren. Also habe ich dem Arzt gesagt, ich muss in eine Klinik, komplett raus, ich brauche diesen Break und möchte fachkundig beraten werden. Aber sie haben mich nicht gelassen. Denn bevor man in eine Klinik kommt, muss man erst mal andere Therapieerfahrungen gemacht haben. Der Klinikaufenthalt ist quasi der letzte Schritt.

Ich habe dann einen Therapeuten gefunden, der auch Zeit hatte. Das war mein Glück, denn man findet nicht so einfach einen Platz. Normalerweise wäre ich nie durch eine Tür gegangen, auf der Psychotherapie steht, das war für mich eine andere Welt. Aber ich war am Ende. 

Was hat dir letztendlich geholfen, den mutigen Schritt zu machen, deine Wohnung zu verkaufen und als Segelaussteiger auf einem Boot in der Türkei zu leben?

Nach der Diagnose war ich erst mal drei Monate lang ausgeknockt und verließ teilweise gar nicht mehr das Haus, da ich Agoraphobie hatte. Ich konnte also nicht einfach spazieren gehen, weil ich Angst hatte umzukippen. In dieser Zeit habe ich angefangen, das Buch zu schreiben. Es war mein erstes Buch, mittlerweile habe ich sechs andere Bücher im Eigenverlag herausgebracht, weil ich mir dachte, das kann doch alles nicht so lange dauern. Gerade als ehemaliger Zeitungsredakteur und späterer Magazin-Journalist, war ich ein ganz anderes Tempo gewohnt. Viele haben gesagt: Mach doch mal gar nichts – aber gar nichts zu machen ist ja enorm langweilig für mich.

 

Wie wichtig war der Schreibprozess für dich?

Ich glaube der Schreibprozess war schon wichtig, weil er mir ein stückweit Normalität vorgegaukelt hat. Wenn man offen mit dem Thema umgeht, merkt man erst, wie viele aus dem Freundeskreis auch davon betroffen sind. Viele Kollegen hätten nie gedacht, dass gerade ich einen Burn-out bekommen würde. An meinem Prozess – von dem Zustand, das Haus nicht verlassen zu können, bis zu dem Schritt hinaus in die Welt zu gehen – waren viele interessiert. Das war ein großer Schritt, der aber nötig war, damit ich diesen totalen Cut machen konnte. Zwischenzeitlich gab mir das Schreiben Kontinuität und Antrieb. Ich war also nie antriebslos, bin jeden Tag aufgestanden und wollte etwas tun, konnte aber das Haus nicht verlassen. Ich musste mit meiner Energie ja irgendwohin und habe deswegen das Buch angefangen und vollendet. In der Zeit habe ich mir auch Segelvideos auf YouTube angeschaut und eine Gruppe aus Amerika entdeckt, zwei Brüder und deren Freunde, die schon seit neun Jahren um die Welt segelten und ihren Trip über die Videos finanzierten. Das fand ich interessant und irgendwann kam der Zeitpunkt, wo ich mir gesagt habe, Segeln – das hast du ja auch schon immer gemacht – vielleicht ist das eine gute Idee. Wie diese Gruppe es geschafft hat, ihren Traum zu leben und gleichzeitig von ihrem Traum zu leben, gefiel mir sehr gut. Sie wirkten so zufrieden und in sich ruhend und glücklich, mit dem was sie taten.

Und so habe ich mir gesagt – das machst du auch.

Der entscheidende Zeitpunkt, den endgültigen Schritt zu machen, kam, als ich in die Redaktion zurückkehrte und den langsamen Einstieg ins Arbeitsleben mit täglich zwei Stunden begann, das sogenannte Hamburger Modell. Gleich am ersten Tag gab es große Anteilnahme – und die ersten Nachfragen – wann bist du wieder voll einsatzfähig, wie sieht es mit Dienstreisen aus? Ach ja, jemand muss nach München zu einem Termin, das ist eigentlich dein Themengebiet. Du musst natürlich nicht, aber … natürlich bin ich hingefahren. Für mich war dann klar – gehe ich zurück in diesen Job, bin ich sehr schnell da, wo ich vor ein paar Monaten war. Es würde auch nichts bringen zu reduzieren und etwas anderes zu machen – wenn, dann musste ich komplett aussteigen. 

Deine Leidenschaft für das Segeln hast du schon als kleiner Junge entwickelt. Dein Vater hatte auch ein Segelboot.

Genau. Ich habe es witzigerweise nie als große Leidenschaft empfunden. Als wir in Düsseldorf wohnten, hatten meine Eltern ein kleines Boot in Holland liegen. Wir mussten jedes Wochenende dahin, ob wir wollten oder nicht. Später in Norddeutschland lag unser Boot an der Ostsee und wieder wurde jeder Urlaub auf dem Boot verbracht. Mit 16 habe ich dann die entsprechenden Segelscheine gemacht und durfte allein mit Freunden auf dem Boot meiner Eltern segeln. Sie waren eben so nett oder doof, je nachdem wie man es sieht, mir das Boot anzuvertrauen, was sich das eine oder andere Mal bitterböse gerächt hat, da man mit 16 eben noch ein wenig sorgloser ist. Der Wetterbericht war uns egal, wir sind einfach losgefahren und haben dadurch diverse Schäden angerichtet. Danach gab es Segelverbot von meinen Eltern. Während des Studiums habe ich mir mein erstes Boot angeschafft und seither immer eins besessen. Viele Jahre war ich auch bei Strandsegelmeisterschaften dabei und bin auch Regatten gefahren.

Segelboot auf dem Meer
Segelboot Dilly Dally © Jens Brambusch

Was begeistert dich und was findest du am Leben auf dem Boot eher anstrengend?

Das Schöne ist, es gab nicht einen Tag in diesen mittlerweile drei Jahren jetzt an Bord, den ich bereut habe. Das wundert mich ein bisschen, weil ich dachte, irgendwann kommt der Tag, wo ich krank werde – wurde ich aber nie. Wo man unter Deck liegt und es einem schlecht geht. Gerade im Winter in der Türkei hat man auch mal schlechtes Wetter, dann ist es viel dunkler, da die Fenster relativ klein sind. Und es ist nicht unbedingt gemütlich, man friert nachts und im Boot ist alles klamm. Ich habe nur einen Heizstrahler, es ist also schon eine wahnsinnige Reduzierung des Lebensraums. Bei den orkanartigen Stürmen, die im Herbst aufkommen können, muss man nachts bei Regen raus auf’ s Boot und alles, was irgendwie wegfliegen könnte, abbauen. Das sind solche Momente, in denen ich denke – Alter, ist das nervig. Aber ich stelle das nie infrage. Und eigentlich ist man, nachdem man das Boot vor dem Sturm „gerettet“ hat und wieder unten in der Koje liegt, auch glücklich, weil man es sturmsicher gemacht hat. Durch das UV-Licht und das Salzwasser hier am Mittelmeer geht am Boot auch immer etwas kaputt. Man muss permanent reparieren. Ich bin ja Islamwissenschaftler und Journalist und kein geborener Handwerker, aber das Schöne am Leben auf einem Boot ist, man lernt immer dazu. Was den Stromhaushalt anbelangt, wie man sich mit Solar versorgt, wie man Leitungen legt, Wetterkunde etc. Die Nähe zur Natur ist natürlich fantastisch und das Besondere sind die Menschen, die man hier kennenlernt. Ein befreundeter Südafrikaner sagt immer – nicht Orte sind es, die einem das Gefühl von Heimat geben, sondern die Menschen, die an diesen Orten leben.

Man trifft hier immer jemanden. Es sind interessante Menschen, aus dem Grund, weil sie alle irgendwann mal einen Bruch im Leben erlebt haben. Die ihr altes, sicheres Leben mit Job und Einkommen aufgegeben haben und jetzt auf einer Nussschale auf dem Meer leben. Und alle haben ihre eigene Geschichte. Man tauscht sich aus und lernt voneinander. In den Häfen kommen die Leute aus aller Welt zusammen. Es ist wirklich so, dass ein Boot, egal wo es sich befindet, Heimat sein kann. 

© Jens Brambusch

Was bedeutet Sicherheit für dich?

Sicherheit ist ja ein weiter Begriff. Was das Segeln angeht, lege ich sehr viel Wert darauf. Ich rüste ganz viel nach, in neue Segel, Wanten und Stage, die den Mast halten. Rettungsmittel etc. Ich habe mir alle möglichen navigatorischen Instrumente zugelegt, die viel Geld kosten. Und ich habe das Vertrauen in mich als Skipper und in das Boot, das ja auch schon älter ist. Auch das ist eine Form von Sicherheit. Als ich mit Mitte vierzig auf’ s Boot ging, hatte ich natürlich nicht genügend Geld bis zur Rente. Allerdings hatte ich am Anfang genug Reserve und Puffer, um mir etwas aufzubauen. Aber um langfristig auf dem Boot zu überleben, brauche ich eine Mischkalkulation. Das ist einerseits Artikel schreiben, u.a. für das Float Magazin und andererseits Bücher, auch im Eigenverlag, damit komme ich über die Runden und kann mir mein Leben mit allem Drum und Dran finanzieren. Und wenn es nicht mehr reicht, dann habe ich wenigstens ein paar gute Jahre gehabt. In Berlin gibt es ja auch noch die ehemalige Airbnb Wohnung, die ich jetzt regulär vermietet habe. Da Heimat und damit das Sicherheitsgefühl nicht gebunden an einen Ort sind, sondern eher an Menschen, kann ich mir auch gut vorstellen, in einem Land wie der Türkei alt zu werden, wo man mit nur ein paar Euro deutlich besser leben kann als in Deutschland. Das ist jetzt aber nicht auf die Türkei festgelegt, sondern kann auch jedes andere Land sein. 

Kannst du mir einen typischen Tagesablauf schildern?

Ich unterteile mein Leben hier grob in zwei Phasen – die eine ist das Segeln mit meiner Freundin, die ich hier kennengelernt habe und die die meiste Zeit mit Hund und Katze mit an Bord ist. [Anmerkung – Jens hat darüber auch ein Buch geschrieben: Cingene – vom Strassenstreuner zum Bordhund.] 

© Jens Brambusch

Wenn wir segeln, stehen wir relativ früh auf und abends, wenn man den Anker geworfen hat, gehen wir auch relativ früh ins Bett. Durch die Seeluft und das permanente Schaukeln des Bootes verspürt man eine gesunde Müdigkeit. Wir segeln einfach mit einem groben Ziel los und es ist wirklich egal, ob man morgen oder übermorgen oder in zwei Wochen ankommt. In einer schönen Bucht lassen wir den Anker fallen und gehen schwimmen. Meistens sind wir mit mehreren Booten unterwegs und man trifft sich auch zum Essen. Da, wo es uns gefällt, bleiben wir. Das kann auch schon mal für zwei Wochen sein. Das ist herrlich. Die andere Phase ist die in der Marina, wenn ich hier in meinem Heimathafen bin. Dann arbeite ich entweder am Boot oder an Büchern. Die Arbeit richtet sich aber auch nach der Jahreszeit. Im Sommer wird es hier sehr heiß, dann stehe ich sehr früh auf, um zu arbeiten. Das ist eben auch das mediterrane Leben. Mittags macht man Siesta und arbeitet abends weiter. Das Schöne ist auch, dass ich die Arbeit an Büchern oder Artikeln nicht als Arbeit empfinde, weil es eben in einer wahnsinnig angenehmen Atmosphäre stattfindet und es keine Deadlines gibt. Ich kann natürlich jeden Cent gebrauchen, aber wenn bestimmte Anfragen kommen, dann sage ich mittlerweile auch ab. Das ist es mir nicht wert. 

© Jens Brambusch

Bist du entspannter geworden, seitdem du auf dem Boot lebst? 

Definitiv. Ich verspüre keinen Druck mehr. Das Stresslevel ist deutlich geringer. Wenn ich einen Anflug von Stress spüre, freue ich mich sogar fast ein bisschen darüber, weil es mich daran erinnert, wie gut es mir jetzt geht im Vergleich zu damals. Ich habe viel besser gelernt damit umzugehen. Ich hatte neulich einem Freund geholfen, ein Boot von der Atlantikküste Frankreichs in die Türkei zu überführen. Für mich war es das erste Mal auf dem Atlantik. So etwas ist auch stressig – viele Nachtfahrten, Stürme und die Ungewissheit, ob die Orkas angreifen oder nicht … aber es ist ein angenehmer Stress, vor dem ich keine Angst habe. 

Segelboot auf dem Meer
© Jens Brambusch

Zitat aus dem Buch: In einer Großstadt wie Berlin kann es schon mal passieren, dass man zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ist. Würdest du sagen, dass du jetzt zur richtigen Zeit am richtigen Ort bist? 

Definitiv. Man kann in der Türkei die Politik zwar nicht ganz ausklammern und muss sich damit auch auseinandersetzen. Und als ehemaliger Journalist bin ich auch nicht damit einverstanden, wie hier mit manchen Themen umgegangen wird. Die Küstenregion hier ist aber eben wie überall am Mittelmeer ganz westlich orientiert, also zu 95 Prozent begegnet man hier aufgeschlossenen Menschen. Die Tattoodichte bei den jungen Frauen ist genauso hoch wie in Berlin Friedrichshain. Fünf Mal am Tag ruft der Muezzin vom Turm, aber ich finde es super. Man erlebt hier auch kulturelle oder gesellschaftliche Aspekte, die in Europa teilweise verschüttgegangen sind, wie Hilfsbereitschaft, füreinander einstehen, sich kümmern. Schön ist auch der Umgang mit älteren Menschen, die einen anderen Stellenwert haben und denen man mit Respekt begegnet. Durch meine Freundin, die Türkin ist, bekomme ich auch viel mehr mit. Unter uns Freunden, aber auch unter den Türken hier herrscht ein Geben und Nehmen. Man fängt Fisch, bereitet ihn zu und er wird geteilt. Oft stehen Leute spontan vor dem Boot und haben zu viel Essen zubereitet, wovon sie etwas abgeben möchten. Diesen Austausch finde ich toll und es spricht eben auch für die Menschen hier. Viele vergessen diesen Aspekt, wenn sie über die Türkei urteilen, sie setzen die Türkei oft mit der Regierung gleich. 

Welches Projekt planst du als Nächstes?

Ende September wollen wir, also das Projekt Arche Noah – Hund, Katze, Maus – die türkische Küste entlangfahren.

 

Die Maus ist deine Freundin?

Ja, das ist meine Freundin. Hund, Katze und Maus – passt eben am besten. [wir lachen beide]

 

 

Hund und Katze mit Segler auf Boot
Sie lieben das Meer - Jens Brambusch, der Siamkater und Bordhund Cingene

© Jens Brambusch

Außerdem möchte ich noch ein bisschen aufrüsten für die große Fahrt in die Karibik nächstes Jahr. Wenn man irgendwann nach Corona wieder reisen kann, wollen wir mit Freunden über den Ozean segeln. Der grobe Plan sieht so aus, dass wir voraussichtlich im Juni nächsten Jahres die Türkei verlassen und drei Monate Richtung Westen durchsegeln, ganz gemütlich andere Länder kennenlernen. Angefangen mit der griechischen Inselwelt, gerade die Peloponnes-Ecke ist sehr schön. Dann weiter Richtung Kanaren, Marokko würde ich auch sehr gerne sehen, was zwar kein gutes Segelrevier ist, aber sehr reizvoll sein soll. Und am Ende auf die Kapverden, sodass man im Herbst dort drei Wochen bleibt.

Aber wie ich auch im Buch geschrieben habe, der Plan ist, kein Plan zu haben.