Interview mit Autorin Katharina Hagena über ihr aktuelles Buch Herzkraft. Ein Buch über das Singen.

Portrait von Frau mit blonden Haaren
© Henrik Spohler

„Je höher mein Ton, desto tiefer muss ich ihn spüren. Singen ist immer beides zugleich: Erde und Luft, durchlässig und kraftvoll, Fluss und Strom.“

Liebe Katharina, welche Bedeutung hat der Titel deines Buches Herzkraft?

Herzkraft ist ein Wort, das meine wundervolle Gesangslehrerin Frau Rottmann immer sagt, wenn beim Singen alles klappt. Wenn die Stimme ganz dicht auf dem Atem liegt und nichts dazwischen kommt und alles fließt. Es fühlt sich gesund an und fast heilsam. Und immer wenn es so ist, ruft Frau Rottmann "jetzt singen Sie mit Herzkraft!" Das ist sehr beglückend. Leider passiert es mir nicht so oft.

Buch liegt auf einem Stein
© Tonia Christie

Am Anfang des ersten Kapitels schreibst du, dass du das Singen in Corona Zeiten vermisst. Onlinesingen klappte nicht, Konzerte wurden abgesagt, du lebtest ohne Gesang – was hat dir geholfen, durch diese sang- und klanglose Periode zu kommen?

Ich habe am Anfang von Corona mit einer Freundin im Duett in der Kirche gesungen, die Akustik ist da drin besonders schön. Aber irgendwann durfte man nur noch mit Mundschutz rein. Über das Singen zu schreiben war gewissermaßen das zweitbeste nach Selbersingen. Das Buch war meine persönliche Corona-Maßnahme.

Singen ist wie ein Elementenwechsel, als könnten wir singend die Schwerkraft überwinden und doch sind wir dabei so geerdet wie selten. Bei welchen Liedern hast du dieses Gefühl, das du beschreibst – die Schwerkraft überwinden und doch geerdet sein? 

Gar nicht unbedingt bei bestimmten Liedern, sondern eher, wenn das Singen gut läuft. Aber es ist wahr, tatsächlich gibt es Lieder, die sind einem wie auf den Atem geschrieben. Und es gibt Lieder, die scheinen sich gegen meine Stimme zu sperren. Ich weiß gar nicht, warum mir manche Lied mehr entgegenkommen als andere. Vielleicht hat es wirklich etwas mit dem Atem zu tun.

Bei welchem Lied zum Beispiel?

Beim Ave Verum (Ave Verum Corpus von Mozart) fühle ich es am stärksten: Ich habe keine Probleme mit der Luft, kann die Spannung halten, ohne zu verkrampfen. Bei dem Lied „Open the eyes of my heart“ ist es ähnlich. Da habe ich das Gefühl, mein Herz muss sich gleich mitöffnen. Das Lied macht also das, wovon es selbst spricht.

 

Bei dem Lied Tourdion spürt man auch diese Schwerkraft.

Ja genau, der Rhythmus ist sehr körperlich. Ich finde es auch schön, mit wenigen Leuten zu singen, weil man die Bassstimme dann gut hört. Sie ist so wichtig, das war mir früher gar nicht so klar. Wenn die Bässe gut zu hören sind, sackt der Sopran nicht ab. Und bei dem Lied Tourdion, geben die Bässe ja einen herzschlagartigen Grundrhythmus vor, schon allein dadurch hat man das Gefühl, geerdet zu sein.

 

Man spürt es beim Singen, aber du hast es in deinem Buch nochmal schön in Worte gefasst.

Naja, das ist eben das, bei dem ich mich sicher fühle. Ich bin ja nicht mit dem Anspruch daran gegangen, dass ich besser singen kann als andere und deswegen besser erklären kann, wie sich das anfühlt. Sondern ich versuche, in Worte fassen, was ich beim Singen empfinde, auch wenn andere natürlich viel besser singen. Ich kann nicht beschreiben, wie es ist, auf einer großen Bühne zu stehen, oder wie es sich anfühlt, eine Arie perfekt zu singen. Ich stelle mir beides umwerfend vor. Ich kann nur darüber schreiben, wie ich beim Singen Glück oder Frieden empfinde, dass ich Aufwärmübungen manchmal peinlich finde, oder warum mich Singvögel so berühren. Ich habe versucht, die Themen streng auf meine Ebene herunterzubrechen. Ich bin Amateurin, ich liebe das Singen, aber ich würde mir nicht anmaßen, Leuten etwas über Technik oder Feinheiten zu erzählen. 

„Es ist wahrscheinlich kein Geheimnis, dass es dem Sopran schwerer fällt als anderen Stimmen, in mehreren Reihen hintereinander zu stehen. Vielleicht liegt es daran, dass wir die Melodie haben und daher auf jeden Fall nicht die Begleitung sein können. Damit sind wir eigentlich Solistinnen. Und jeder weiß, dass Solistinnen Diven sind – und das verpflichtet natürlich zu einer gewissen Exzentrik und einem Mindestmaß an Allüren.“

Wir singen zusammen im Montagschor im Sopran. Im Kapitel SATB, (Sopran, Alt, Tenor, Bass) beschreibst du die einzelnen Stimmlagen im Chor und welche Bedeutung sie haben. Hattest du Spaß bei der Recherche für das Buch?

Ja, sehr. Ich fand es wirklich interessant, Sachen zu recherchieren, die ich schon immer mal wissen wollte: Was bedeutet "Bass", warum kommt die "Falsettstimme" von "falsch", und was passiert dabei eigentlich genau. Das ist auch bei den Romanen ein schönes Privileg: Dass man sich so einarbeiten kann in Dinge, die einen begeistern. Und es ist auch ein Luxus, die Zeit zu haben, um zu recherchieren bis man das Gefühl hat, wirklich etwas begriffen zu haben. Es müssen aber immer Themen sein, für die ich von vornherein brenne. Ich weiß jetzt alles über Moos Das Geräusch des Lichts oder über den Schlaf Vom Schlafen und Verschwinden oder über Apfelkerne Der Geschmack von Apfelkernen (lacht). Aber es sind Sachen, die ich wirklich wissen will. Und mit Glück kriege ich es vielleicht hin, dass sich auch andere Menschen für die Schönheit und Bedeutung dieser Dinge interessieren.

 

Vor jedem Kapitel von Herzkraft steht ein Gedicht von verschieden Dichter*innen. Wie hast du die einzelnen Gedichte ausgesucht?

Ich wollte tatsächlich gern auch eine kleine Lyrik-Anthologie über das Singen zusammenstellen. Es gibt so viele Gedichtsammlungen zu allen möglichen Themen, aber keine über das Singen. Obwohl die Lyrik ja das ist, was in der Literatur dem Gesang am nächsten kommt. Die englischen Gedichte darin habe ich größtenteils selbst übersetzt. Das fühlte sich ein bisschen an wie Duettsingen. Rechtlich war das aber oft gar nicht so einfach. Zum Beispiel hatte ich eines meiner Lieblingsgedichte „Morning Song“ von Sylvia Plath übersetzt, durfte es aber nicht mit ins Buch aufnehmen, da die deutschen Rechte auf Gedichte von Plath bei einem Verlag liegen, der sie allein veröffentlichen darf. Dafür habe ich dann Sophie Albrechts „Morgenlied“ genommen. Sie war lange genug tot - da waren die Rechte frei. Manchmal hatte ich einen Aspekt des Singens, zu dem ich nach einem Gedicht gesucht habe. Zum Beispiel wollte ich ein Kapitel schreiben über das Ablehnen von Gesang, über Scham und Aversion. Dazu fielen mir aber keine Gedichte ein. Doch ich hatte so ein Gefühl, dass ich vielleicht mal bei Robert Frost nachschauen könnte. Ich fand tatsächlich eines und übersetzte es. Die Robert-Frost-Estate in den USA hat es daraufhin geprüft und der Veröffentlichung zugestimmt. Also ist dies jetzt die Erstveröffentlichung einer deutschen Übersetzung des Gedichts „A Minor Bird“... 

„Das Singen ist (aber) nicht nur Thema von Geschichten oder Teil ihrer Handlung, sondern Literatur ist selbst Gesang. Bei der Lyrik ist es am offensichtlichsten, dort haben wir Strophen und Verse, und im Wort Lyrik steckt Lyra, die Leier, mit der sich die Dichter einst selbst begleiteten. Heinrich Heine nennt seine Gedichte „Lieder“ und viele von ihnen lassen sich tatsächlich wunderbar singen. “

Im Kapitel Singvögel schreibst du: Vögel singen noch inniger als wir, an einer Stelle, die noch näher am Herzen liegt,  vielleicht wird mir bei vielen Vogelrufen deshalb so weh ums Herz: Sie erinnern mich an das, was nicht mehr ist, an Menschen, die ich einst liebte, an die Flüchtigkeit unseres Lebens, unserer Lieder, wohingegen das Lied des singenden Vogels weiterbestehen wird. 

Löst der Gesang der Vögel eine Sehnsucht aus, weil sie frei sind?

Das ist vielleicht mein Lieblingskapitel, weil ich dabei so viel gelernt habe! Ich glaube, Vögel berühren uns, weil sie so klein und verletzlich sind, aber ihr Gesang ist hingegen stark und unermüdlich. Es hat auch etwas mit dem Fliegen zu tun, wie ich es ganz am Anfang des Buches sage: Singen kommt dem Fliegen schon sehr nahe. Bei den Vögeln ist es wirklich so – sie können singend fliegen und fliegend singen. Bei Lerchen hat man ja sogar das Gefühl, sie fallen sofort runter, wenn sie aufhören zu singen. Ich habe gelernt, dass zum Atmungsapparat der Vögel lauter kleine Luftsäckchen gehören. Die sind zum Fliegen wichtig, aber eben auch zum Singen. Der Vogel kann sich mit einem Atemzug ganz mit Luft füllen und wird dann zu einer Art Minidudelsack, aus dem der Gesang auch dann noch herausströmt, wenn schon lange nicht mehr Luft geholt wurde. Deswegen wirkt das Lied der Nachtigall so endlos. Es ist auch verblüffend, dass Vögel das Singen, genau wie wir Menschen, erst lernen müssen. Dass sie nicht singend auf die Welt kommen. Und dass Vögel, die an einer lauten Autostraße wohnen, weniger Gesänge haben als Vögel die im Wald leben. Wie sich eine Amsel am Abend in ihrem Gesang ganz verströmt, das ist schon sehr anrührend. Allerdings war ich auch mal im Juni in Rom, und ab vier Uhr morgens gurrten alle Tauben der Stadt genau vor meinem Fenster. Das war, ehrlich gesagt, grauenvoll! Ich liebe aber den Gesang von Wasservögeln, so flüssig und gluckernd, als bestünden die Vögel selbst aus Wasser. Oder Bussarde, die wie verlorene Seelen schreien. 

Hinter der Gestaltung des Buchcovers steckt eine besondere Geschichte, bei der auch die Stimme und der Klang eine Bedeutung hat. Wie ist es entstanden? 

Ursprünglich war eine Illustration von einer Sängerin geplant, aber das wurde in letzter Minute gekippt, und wir mussten schnell etwas Neues finden. Irgendwann bin ich auf die walisische Sängerin Margret Watts Hughes und ihre Klangbilder gestoßen und dachte – was sind das für abgefahrene Bilder? Sie hat ein Gerät erfunden, mit dem sie die Schallwellen ihrer Singstimmte sichtbar machte. Dabei stellte sie fest, dass die dabei entstandenen Muster die Formen und Strukturen der Natur widerspiegeln. Ich glaube, sie war die erste Frau, die ihre Erfindung in der Royal Society vorstellen durfte. Das Bild auf dem Cover ist abstrakt und zugleich bildgewordene Singstimme. Ein Glücksfund.

Du schreibst, du singst am liebsten zu viert alte polyphone Musik des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Was ist Polyphonie und was fasziniert dich an diesen Liedern?

Die Polyphonie zeichnet sich dadurch aus, dass alle vier Stimmen fast unabhängig voneinander ihre eigene Melodie haben und dennoch gut zusammenklingen. Es ist fast wie beim Jazz, wo man das Gefühl hat, jeder spielt eigentlich nur für sich so vor sich hin, und dennoch hört es sich zusammen wahnsinnig gut an. Dieses Phänomen gibt es eben auch bei den alten Liedern, wo jede Stimme fast gleichberechtigt ist. Man kann sie gut zu viert singen, ohne eine langjährige Stimmbildung gemacht zu haben. Die Lieder haben oft etwas sehr Persönliches und sind nicht unbedingt immer nur zum Lob Gottes. Es geht viel um Liebe und Schmerz, und die Melodie ist oft einprägsam wie bei einem Volkslied. Gleichzeitig haben sie doch die Raffinesse eines Kunstlieds. Für mich eine tolle Mischung. 

„Singen tröstet, beruhigt, gibt Mut und Zuversicht, stärkt die sozialen Bindungen unter den Singenden – und genau deshalb eignet es sich auch besonders gut dafür, einer Staatsmacht die Stirn zu bieten. Jede Widerstandsbewegung hat ihre Lieder. Die Gedanken sind frei ist eines der schönsten und ältesten Widerstandslieder, es wird immer dann gesungen, wenn das Grundrecht der Meinungsfreiheit in Gefahr ist.“

Welche Rolle spielt das Singen heute noch in deiner Familie? Gibt es eine Tradition?

Ich habe immer viel mit meinen Kindern gesungen. Im Moment singe ich viel für meinen Vater, der in einem Heim liegt und nicht mehr spricht. Aber auf Gesang reagiert er und singt ein bisschen mit, und wenn er nicht laut mitsingt, dann singt er doch innerlich mit, das kann man sehen. Wenn alle anderen Leitungen in der Kommunikation schon gekappt sind, kann man durch Gesang die Menschen auf der emotionalen Ebene immer noch erreichen, egal wie abwesend oder dement sie schon sind. Das finde ich tröstlich, und es zeigt, das Singen viel mehr ist als das Aneinanderreihen wohlklingender Töne. 

Vielen Dank an Katharina Hagena für die bezaubernde Version des alten plattdeutschen Liedes "Dat du mien Leevsten büst", das sie im Duett mit Karin Klose, Leiterin des Montagschor singt.